Zuckerfabrikant in Köln
Mitglieder der zunächst in der Tabakverarbeitung, später auch in der Zuckerherstellung tätigen protestantischen Familie waren durch Heirat mit herausragenden Vertretern des rheinischen Wirtschaftsbürgertums verbunden. Der 1881 geadelte Adolf von Carstanjen baute eine bedeutende Gemäldesammlung (heute im Kölner Wallraf-Richartz-Museum) auf. Sein umfangreicher Landbesitz in Plittersdorf (heute Stadt Bonn) wurde nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland als Standort von Ministerien und zum Bau der Amerikanischen Siedlung genutzt.
Martin Carstanjen (1727-1791), Stammvater der älteren Linie, wurde auf dem Rheinschiff seines Vaters geboren und blieb bis zu seiner Heirat in der Tradition der Familie als Schiffer tätig. 1753 ließ er sich, wohl auf Wunsch seiner jungen Ehefrau, als Kolonialwarenhändler in Duisburg nieder und erwarb das Bürgerrecht. 1780 errichtete er mit seinen Söhnen eine Tabakmühle. Gerhard Wilhelm (1753-1817) und Johann Arnold (1764-1810) heirateten in die Familie eines Tuchfabrikanten aus Eupen, Conrad Jacob (1763-1840), Arzt und Professor an der Duisburger Universität, ehelichte eine Tochter des Oberbürgermeisters. Schwerpunkt der Familienaktivitäten in Duisburg blieb die Tabakverarbeitung. Die von Arnold Friedrich Carstanjen (1791-1853) gegründete Fabrik wurde von dessen Söhnen Albert (1816-1871) und Emil (1817-1908) unter der Firma “A.F. Carstanjen Söhne” weitergeführt. Emils Sohn Eduard (1865-1926) verbrachte seine Lehrzeit in Bremen und sammelte in England und Holland Auslandserfahrungen. Während des „Ruhrkampfes“ beschlagnahmte 1923 die französische Besatzung den Duisburger Betrieb. Eduard Carstanjen musste die elterliche Wohnung räumen und zog zu seinem Bruder Ernst (1857-1927), der nach Jahren im väterlichen Betrieb eine eigene Zigarrenfabrik in Lorsch gegründet hatte.
Max Carstanjen (1856-1934), ein anderer Enkel des Gründers der Tabakfabrik, brach mit der Familientradition und wurde Bauingenieur. 1881 trat er in den Dienst der Preußischen Staatseisenbahnen. Sein Vorentwurf für die 1894-1897 erbaute Müngstener Brücke (Stadt Solingen) ließ die MAN auf ihn aufmerksam werden. 1895 trat er in die Firma ein und leitete von 1901 bis 1923 das Werk Gustavsburg. Auf dem Gebiet des Wasserbaus machte er sich durch Entwicklung des Walzenwehrs einen Namen. Sein jüngerer Bruder Victor (1858-1933) übernahm 1884 die von seinem früh verstorbenen Vater Julius (1819-1859) in Duisburg gegründete Dachpappenfabrik und erweiterte sie. Aus der angegliederten Abteilung für Zementwaren (Steine und Rohre) ging 1892 die Kommanditgesellschaft “Duisburger Cementwarenfabrik Carstanjen & Cie.” hervor, die Victor Carstanjen bis zu seinem Tod zu einem der wichtigsten Betonsteinwerke Westdeutschlands ausbaute. Er war Mitgründer des Deutschen Betonvereins und dessen langjähriges Vorstandsmitglied. 1912 versteuerte er 170.000 Mark Jahreseinkommen, sein Vermögen wird mit 2-3 Millionen Mark beziffert. Nahezu identisch sind die entsprechenden Werte für drei weitere Mitglieder der Familie in Duisburg, die Fabrikbesitzer Eduard (1865-1926) und Wilhelm Georg (1862-1917) und den Bankdirektor Richard Carstanjen (1870-1932).
Auch die jüngere Linie der Duisburger Carstanjens hat ihre unternehmerischen Wurzeln in der am Ort weit verbreiteten Tabakverarbeitung. Schon Petrus Carstanjen (1730-1767) stellte vermutlich neben seinem Kolonialwarenhandel Rauchtabak her. Sein Sohn Peter (1765-1849) betrieb zunächst Arzneiwissenschaft und übernahm erst 1794 das von der Mutter fortgeführte Geschäft. Er nahm die Produktion von Rauchtabak in großem Maßstab auf und übergab 1832 den Betrieb seinen beiden Söhnen Carl (1799-1875) und Wilhelm (1801-1878), die ihn unter dem Namen “C. & W. Carstanjen” weiterführten. 1837 beschäftigte die Fabrik an der Kuhstraße 50 Tabakspinner. 1856 wurde der Betrieb nach einem Brand an den Kuhlenwall verlegt, wo er bis zum Jahre 1973 bestand. Wilhelm Carstanjen heiratete 1824 Malwina Scheibler (1806-1882) aus der bekannten Monschauer Tuchfabrikantenfamilie (“Rotes Haus”). Ihre neu erbaute Villa an der Düsseldorfer Landstraße mit seinem parkähnlichen Garten wurde zum Sammelpunkt der weitverzweigten Familie.
Zur Zuckerfabrikation kamen die Carstanjens durch Peter Alexander (1791-1845). Er heiratete in die Dürener Industriellenfamilie Schoeller ein. Zusammen mit den beiden jüngeren Brüdern Carl und Wilhelm sowie Franz Josef Mittweg (als Kommanditisten) errichtete er in der Kölner Machabäerstraße eine Rohzuckerraffinerie. Gemessen an der zwischen 1834 und 1841 gezahlten Zuckersteuer wuchs der Anteil der Firma “Gebrüder Carstanjen” an der gesamten Kölner Zuckerproduktion dieser Jahre von knapp zwei auf etwa fünf Prozent. Die Söhne August (1818-1872) und Hugo (1820-1902) folgten ihrem Vater nach dessen Tod in der Betriebsführung. Zusammen mit den Carstanjens gründeten die Duisburger Zuckerfabrikanten Johann Jacob (1792-1862) und Johann Peter vom Rath (1795-1866) ihre zweite rheinische Fabrik in Köln – ebenfalls in der Machabäerstraße. Sie erreichte schnell den zweiten Rang unter den Produzenten der Domstadt. Nach Jahren informeller Preisabsprachen schlossen sich 1855 die vier größten rheinischen Zuckerfabriken zusammen. Die Altfirmen blieben Eigentümer der Immobilien und auch weiterhin für die technische Leitung der Fabrikation verantwortlich. Die Gewinnverteilung billigte Carl Joest & Sohn, dem Marktführer in Köln, 40 Prozent zu. Ebenso viel erhielt die Familie vom Rath für ihre Anlagen in Duisburg und Köln, 20 Prozent entfielen auf die Gebrüder Carstanjen. Zusammen deckte das seit 1864 als “Rheinischer Actien-Verein für Zuckerproduktion” firmierende Unternehmen circa drei Viertel des rheinischen Bedarfs ab.
Die 1897 stillgelegte Zuckerfabrik der Carstanjens in Köln wurde die erste berufliche Station des wohl bekanntesten Vertreters der Familie. Wilhelm Adolf (1825-1900), erstgeborener Sohn von Wilhelm und Malwina, arbeitete hier ab 1849 neben seinen älteren Vettern. Seine Vermählung mit Adele vom Rath (1834-1905), Tochter des Kölner Zuckerfabrikanten Carl vom Rath (1802-1875), ging der ein Jahr später vollzogenen Fusion der beiden Familienunternehmen voraus und verschaffte ihm die finanziellen Mittel, aus der Routine des Zuckergeschäfts auszubrechen. Auch seine Brüder folgten anderen Zielen: Otto (1826-1888) wirkte in der väterlichen Tabakfabrik C. & W. Carstanjen, Wilhelm (1829-1865) gründete nach einer Banklehre in Krefeld eine Seidenfabrik, Ernst (1836-1884) studierte in Bonn und Freiberg Naturwissenschaften, Metallurgie und Chemie, habilitierte sich 1868 im Fach Chemie und lehrte, seit 1873 außerordentlicher Professor, bis zu seinem Tode in Leipzig.
Adolf, der begabte Schachspieler, wurde reich. Als selbständiger Bankier im Hause Deichmann spekulierte er erfolgreich an der Börse, war an Eisenbahnprojekten beteiligt und erwarb in großem Umfang Grundstücke, deren Wert im Zuge der Kölner Stadterweiterung stark anstieg. Wie andere begüterte Kölner Familien verbrachte man Wochenenden und Sommermonate in Godesberg (heute Stadt Bonn), zunächst in der Villa der Schwiegereltern, dann zur Miete, bevor sich Adolf Carstanjen 1880 in der Kurfürstenstraße (Nr. 8) eine repräsentatives Domizil im Stile der Neorenaissance errichten ließ. Größe und Üppigkeit der Dekorationen machen das Gebäude, heute Sitz der Bonner Musikschule, zum Fremdkörper unter den eleganten Nachbarbauten. Sein Erbauer fuhr vierspännig mit englischen Kutschern, erwarb in Plittersdorf 500 Morgen Ackerland einschließlich des alten Heisterbacher Gutshofes am Rheinufer mit seinem von Sybille Mertens (1797-1857) angelegten Landschaftspark, stiftete die Besitzung unverzüglich als Fideikommiss und wurde am 21.12.1881 wegen nicht näher definierter Verdienste im Krieg 1870/1871 in den erblichen preußischen Adelstand erhoben. Sein Reichtum hinderte ihn nicht daran, 1897 mit einer Unterschriftensammlung gegen die geplante Eingliederung Plittersdorfs in einen “Communalverband” mit Rüngsdorf und Godesberg zu opponieren. Die von ihm aktivierten Grundbesitzer der rein ländlichen Gemeinde hatten kein Interesse, für die “Luxuseinrichtungen” im Badeort Godesberg höhere Steuern zu zahlen.
Lebensmittelpunkt wurde nach 1881 Berlin, wo Adolf von Carstanjen in einem klassizistischen Häuserblock (Pariser Platz 6) eine große Wohnung mietete. Hier konnte er über zwei Etagen seine wachsende Kunstsammlung unterbringen, deren Kern eine repräsentative Auswahl alter niederländischer Meister bildete. Heutige Kunsthistoriker zollen dem Aufsteiger in der Auswahl der Bilder hohen Respekt. Dabei war der Autodidakt nicht Teil jenes Berliner Sammlerkreises, der sich von Wilhelm Bode (1845-1926) beraten ließ. In den Augen des langjährigen Museumsdirektors war Carstanjen gar ein “futterneidischer, unerfreulicher Herr”. Nach dem Tode beider Eheleute übernahm das Kaiser-Friedrich-Museum (seit 1956 Bode-Museum) von der Familienstiftung 49 Gemälde als Leihgabe, kündigte jedoch 1910 den Vertrag wegen Raummangels: Die zahlreichen Neuerwerbungen der Berliner Galerie hatten die relative Bedeutung der Sammlung Carstanjen zurückgehen lassen. Hugo von Tschudi (1851-1911) holte sie nach München, wo sie in der Alten Pinakothek zu sehen war. 1928 gelang es, die Bilder als Leihgabe an das Kölner Wallraf-Richartz-Museum zu ziehen, wo bedeutende Werke holländischer Meister der 17. Jahrhunderts zur Ergänzung des Bestandes gesucht wurden. Ein geplanter Verkauf der Sammlung nach Düsseldorf konnte in letzter Minute verhindert werden. Die Stadt Köln erwarb sie Anfang 1936 für 2,2 Millionen Mark von der Erbengemeinschaft.
In Godesberg hatte Adolf von Carstanjen 1895/1896 ein in seiner Art einzigartiges Familienmausoleum mit insgesamt 16 Beerdigungskammern an den Rhein stellen lassen (seit 2007 dient es als christliche Urnengrabstätte). Zur reibungslosen Übergabe des Familienvermögens an die nächste Generation befahl er bereits 1893 seinen Sohn Robert (1866-1940) nach Berlin, ein gewiss großes Opfer für den leidenschaftlichen Kavallerieoffizier. “Ich begab mich täglich ins Büro am Pariser Platz, wo ich unter Oberleitung meines Vaters regierte”, erinnerte sich der ehemalige Schwarze Leibhusar gequält. In Plittersdorf überließ ihm der Vater den Auerhof. 1895/1896 wurde die wenig komfortable Immobilie ausgebaut, 1906/1907 um ein weiteres Stockwerk und den aufgesetzten Nordturm ergänzt. Das väterliche Erbe erlaubte beiden Söhnen ein Leben frei von Erwerbsarbeit. Dass Robert – ebenso wie sein Bruder Moritz von Carstanjen (1860-1916) – noch nicht einmal ein Aufsichtsratsmandat wahrnahm, war außergewöhnlich für Männer, deren Vermögen 1912 auf je 11-12 Millionen Mark geschätzt wurde. Nach dem Tode des älteren Bruders oblag Robert die Auflösung der Fideikommisse und die alleinige Verwaltung der Familienstiftung.
1941 von der Wehrmacht erworben, wurde das im Krieg unzerstörte “Schloss Carstanjen” zur Gründung der Bundesrepublik von der britischen Besatzung geräumt und nach gründlicher Renovierung Sitz des Marshallplan-Ministeriums unter Vizekanzler Franz Blücher (1896-1959). Heute ist es Sitz mehrerer UN-Behörden. Das dazugehörige Ackerland hatte die Erbengemeinschaft Carstanjen verpachtet. 1951 wurde es zum Bau der “Amerikanischen Siedlung” für die Mitarbeiter der US-Kontrollbehörde, später US-Botschaft, benötigt. Die Verkaufsverhandlungen führte Martin von Carstanjen (1925-2005), der Sohn Roberts aus dritter Ehe.
Quelle Text:
Vogt, Helmut, Familie Carstanjen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/familie-carstanjen-/DE-2086/lido/57c68b3eb93055.16209659 (abgerufen am 29.09.2021)